Das Grauen in den Bergen
Leseprobe
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Mr. Vanderbilt kam einem Geier so nah, wie es einem Menschen möglich ist. Vielleicht hatte er die Grenzen des in diesem Zusammenhang Erlaubten auch um einige Zoll überschritten. Sein kahler Schädel klammerte sich an einen langen, dürren Hals. Eine riesige Aristokratennase stach mir entgegen, während mich kleine, gierig funkelnde Äuglein musterten. Sein Alter war unbestimmbar, ich schätzte ihn jedoch auf mindestens siebzig, da seiner Haut eine pergamentartige Faltigkeit zu eigen war, die mir nicht sonderlich behagte. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, einem Aasfresser gegenüberzusitzen, der vom sicheren Platz im hohen Geäst aus auf seine nächste Mahlzeit herablächelte.
Wie Vanderbilts Büro eingerichtet war, werde ich nicht verraten. Und in welcher Stadt das Gebäude stand, wirst du ebenfalls nicht erfahren, Magdalene. Ich möchte dich nicht in die Lage versetzen, meine Spuren zurückverfolgen zu können. Du könntest sonst auf die Idee kommen, etwas sehr Törichtes zu tun und mich suchen. Falls du glaubst, in Vanderbilts Namen einen brauchbaren Hinweis gefunden zu haben, lass dir gesagt sein: Es handelt sich nicht um den wahren Namen dieses Mannes. Vielmehr ist er frei erfunden, wie sämtliche Namen innerhalb meines Berichts. Bemühe dich also nicht, Liebste!
Nachdem ich in einem Ledersessel vor Vanderbilts Schreibtisch Platz genommen hatte, faltete der Mann die dürren Hände vor der Brust und legte sein spitzes Kinn darauf ab. Er musterte mich einige Sekunden lang, bevor er verkündete: »Mr. Usher, kein Zweifel. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.«
»Bitte? Wie meinen Sie das?«
Vanderbilt lehnte sich zurück, entfaltete beide Zeigefinger und legte ihre Spitzen aneinander. Sein Anzug raschelte, als er an dem spindeldürren, trockenen Körper entlangglitt. »Ich spreche von Familienangehörigkeit, Mr. Usher. Körperbauliche Merkmale, vererbte Parallelen.«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber ich habe keine Blutsverwandten. Ich war ein Waisenkind und habe bislang keine Kinder gezeugt. Und wenn meine Frau mit mir verwandt wäre, wüsste ich das sicherlich.«
Falls ich gehofft hatte, mit der letzten Bemerkung eine amüsierte Reaktion zu provozieren, wurde ich enttäuscht. Vanderbilts Stimme klang rau und hohl, als er antwortete: »Das ist es, was sie bislang dachten, Mr. Usher. Aber was wäre, wenn ich Ihnen sagte …« Eine seiner Spinnenhände zog eine Schublade des Schreibtisches auf, fasste hinein und förderte einen versiegelten Umschlag zutage. »… dass bis vor wenigen Tagen tatsächlich ein Blutsverwandter von Ihnen existiert hat? Und dass Sie der alleinige Erbe seiner gesamten Besitztümer sind?«
»Und wer soll das sein? Denken Sie wirklich, ich wüsste nichts davon, wenn ich irgendwo dort draußen einen Onkel, Neffen oder Großcousin hätte?«
Du weißt ja, dass ich viele Jahre meines Lebens darauf verwandt habe, meine Herkunft zu ergründen, Magdalene. Daher wirst du den Schock nachvollziehen können, den Vanderbilts nächste Worte mir versetzten.
»Ich spreche nicht von einem Onkel oder Großcousin. Bei dem Verstorbenen handelt es sich um Ihren Vater.«
Es dauerte einige Sekunden, ehe die Farbe in mein Gesicht zurückkehrte. Als ich wieder Luft bekam, sprudelte es aus mir heraus: »Mein … mein Vater? Blödsinn! Ich habe meine Eltern nie kennengelernt! Woher …? Sind Sie sicher? Was hat er all die Jahre gemacht? Woran ist er gestorben?«
Ich wusste nicht, was ich angesichts dieser Offenbarung fühlen sollte. Vanderbilt war weit davon entfernt, mich von der Wahrhaftigkeit seiner Behauptung zu überzeugen. Doch selbst falls ich ihm geglaubt hätte … in mir rangen die verschiedensten Emotionen miteinander. Und was der Notar anschließend erzählte, machte die Sache nicht gerade besser.
»Beruhigen Sie sich, Mr. Usher. Ihre aufbrausende Art ist eines Gentlemans nicht würdig. Ja, atmen Sie tief durch. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Besser. Also, um einige Ihrer Fragen zu beantworten: Ihr Vater hat zeit seines Lebens von Ihrer Existenz gewusst. Ja, er hat Sie sogar überwacht, könnte man sagen. Allerdings zwangen gewisse … Umstände ihn und seine Gattin dazu, sich Ihnen niemals zu offenbaren.«
»Seine Ga … Sie meinen meine Mutter?«
»In der Tat, ich spreche von Ihrer Mutter.«
»Aber … aber warum haben sie sich nie bei mir gemeldet? Weshalb waren sie nicht für mich da, als … als ich sie gebraucht hätte?«
Ich war drauf und dran, dem dürren Kerl an die Kehle zu springen. Die Vorstellung, dass die eigenen Eltern sich vor mir verborgen haben sollten … dass sie mich weggegeben hatten, in die zweifelhafte Obhut eines Heims … dass sie mich laut Vanderbilt mit meinem entbehrungsreichen und gepeinigten Leben alleingelassen hatten, obwohl Sie von meinen Problemen wussten … es war beinahe mehr, als ich ertragen konnte.
Der ausgemergelte Mann beugte sich vor und fixierte mich mit kühlem Blick. »Es ist nicht meine Aufgabe, die Motive Ihrer Eltern zu hinterfragen, Mr. Usher. Ich verwalte lediglich den Nachlass.« Einer seiner Finger pochte auf den Umschlag. Ich erwartete halb, dass er ihn mit dem dürren Ding aufspießen würde. »Und ich vermute, dass Sie an der Bedingung interessiert sind, die an die Übergabe des Nachlasses gebunden ist.«
»Bedingung?«
»Jawohl, es gibt eine Bedingung. Sie müssen wissen, dass Ihre Eltern durchaus an Ihrem Wohlergehen interessiert waren, denn Sie haben Ihnen eine nicht unerhebliche Summe vermacht. Zusätzlich liegt dem Scheck ein Schreiben Ihres Vaters bei, das, ich zitiere: ›… die Antworten auf viele berechtigte Fragen enthält, selbst wenn es unser Verhalten niemals wird entschuldigen können.‹ Klingt das interessant, Mr. Usher?«
Ich prustete: »Da fragen Sie noch? Nun öffnen Sie den verdammten Umschlag schon, Sie …«
Vanderbilts Zweig von einem Zeigefinger hob sich und wurde sanft geschwenkt. »Ich fürchte, derart einfach ist die Sache nicht. Da wäre noch die erwähnte Bedingung.«
Erneut griff er in die Schreibtischschublade. Als seine Hand wieder erschien, hielt sie ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter umklammert. »Es obliegt mir, Ihnen diesen Kontrakt zu unterbreiten, Mr. Usher. Sollten Sie mit den Bedingungen des Vertrages einverstanden sein, werde ich Ihre Unterschrift notariell beglaubigen. Alsdann steht einer Übergabe des Nachlasses nichts mehr im Wege.« Er lächelte wölfisch.
»Kontrakt? Was zur …?«
Ich riss das Dokument an mich. Abgesehen von der Kopfzeile und den unleserlichen Unterschriften Vanderbilts und eines Mannes, bei dem es sich um meinen Vater handeln sollte, stand dort nur ein einziger Satz. Ich las ihn wieder und wieder, starrte minutenlang auf das Blatt Papier und wandte mich letztlich verstört an den menschlichen Geier, der mir gegenübersaß.
»Weshalb sollte er wollen, dass ich das tue?«
Vanderbilt zuckte mit den Achseln – spitze Schulterknochen durchbohrten nahezu das Jackett. »Ich weiß es nicht, Mr. Usher. Wie gesagt ist es nicht meine Aufgabe, die Motive …«
Ich hörte schon nicht mehr hin, sondern klebte wieder an dem Vertrag. Vor meinen ungläubigen Augen prangte der Satz, jener einzelne Satz, der etwas so scheinbar Sinnloses von mir forderte. Ich wünschte heute bei Gott, ich hätte ihn tatsächlich befolgt.
Das Schriftstück verlangte in unmissverständlichem Tonfall:
Verbrenne unser Haus sowie sämtliche Besitztümer, die sich darin befinden.
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