Bonnies Haare

 

Bonnie fielen die Haare aus. James erschrak, als er die blonden, verfilzten Strähnen an seinen Fingern haften sah. Die eigenen Hände kamen ihm vor wie ein Paar Sicheln, das tief in überreifes Korn hineinschnitt.

Sie regte sich in seinem Schoß. Zitterte. Ein Zischen entwich dem einst so wohlgeformten Mund. Während James auf Bonnie hinabsah, überkam ihn tiefste Verzweiflung. Sie litt. Befand sich in einer Art Delirium. Ihr Körper war versehrt von einer Unzahl kleinerer und größerer Verletzungen. Und alles, was er für sie tun konnte war, ihren Kopf zu streicheln.

Also tat er es. Einem goldenen Schauer gleich schwebte blondes Haar zu Boden. Bonnie beruhigte sich und fiel zurück in ihren Schlummer.

James betrachtete sie eingehender. Es war nicht viel geblieben von der Frau, in die er sich einst so hoffnungslos verliebt hatte. Damals, zu einer Zeit, die ihm Äonen entfernt erschien. Bevor das Unheil über die Welt hereingebrochen war. Bevor sie sich in dunklen Spalten hatten verkriechen müssen, um den Scheusalen dort oben zu entgehen.

Nun war sie kaum mehr als eine Collage verschiedenster Gewebe, seine Bonnie. Ein Gebilde, mehr schlecht als recht zusammengehalten von einer Reihe langsam versiegender, biologischer Prozesse. Die Natur war ein hartnäckiger Klebstoff, doch auch sie strich irgendwann die Segel. Es war nahezu unmöglich, ausreichend Nahrung zu finden. Und ohne Nahrung zerfiel der Körper zusehends.

Münzgroße, kahle Flecken aus trockener Haut entstanden unter seinen sanften Bewegungen. Und die Finger, die diese Stellen liebkosten, waren taub. Mehrere Nägel fehlten, das empfindliche Fleisch darunter war freigelegt. Doch James verspürte kaum noch Schmerzen.

Bald würde er neben seiner Bonnie liegen. Sie würden hier verenden, in komatöser Eintracht davondämmern. Aber das wäre schon okay. Die Existenz war zur steten Qual geworden, der Hunger zu einem unerbittlichen Begleiter. Und immerhin würden sie Bonnie und ihn nicht kriegen. Lieber erlag er dem Hunger als ihnen.

Seine Gedärme krampften sich zusammen.

Hunger.

Wie lange war es her, dass er zuletzt eine Ratte hatte erbeuten können? James wusste es nicht. Es fiel ihm immer schwerer, seine Erinnerungen einzufangen. Sie waren wie Glühwürmchen in der Finsternis, entflohen seinem Zugriff, um kurz darauf an anderer Stelle wieder aufzuleuchten.

Hunger …

Und Bonnie erging es weitaus schlimmer als ihm. Er hatte, dessen entsann er sich zufälligerweise, ihr den Großteil des Tiers überlassen. Gierig hatte sie die warmen Innereien aus der Bauchhöhle geschlürft, für Minuten war ihr Geist wieder aufgeflammt und ihren trüben Augen war anzusehen gewesen, dass sie ihn erkannte. Doch das parasitenverseuchte Fleisch hatte ihr Feuer nur kurz zu schüren vermocht, nur allzu schnell war seine Wirkung verpufft. Seither lag sie in seinem Schoß und er tat für sie alles, was er noch tun konnte.

Sie war nun beinahe kahl. Dunkle Flecken erblühten hier und da auf ihrem Kopf. Verweste Stellen, Eintrittspforten für das Unausweichliche. Ein weiteres mal krampfte sich James‘ Innerstes zusammen.

Hunger.

Er musste es füllen, musste etwas in die Leere hineinwerfen, bevor sie ihn verzehrte! Vorsichtig schob er Bonnies schlaffen Körper von sich herunter, versuchte, die zerrissenen Lumpen, die von ihrer Kleidung geblieben waren, nicht noch weiter in Mitleidenschaft zu ziehen. So sanft es ging, bettete er sie in den Schlamm.

James stemmte sich empor. Er grunzte, als er zur Seite wegknickte und nur mit Mühe einen Sturz verhindern konnte. Das rechte Bein wollte ihn nicht so recht tragen. Er sah an sich herab und entdeckte eine verkrustete, offene Tibiafraktur. Weshalb war ihm die lateinische Bezeichnung des Knochens geläufig? Eine weitere Erinnerung umschwirrte ihn, zuckte hierhin und dorthin, während sie von einem Winkel seines Verstands zum nächsten schoss. Dann fiel es ihm ein.

»Arrrzt«, krächzte er mit staubtrockener Kehle. Ja, das war es. Er war Arzt gewesen. Damals, vor so langer Zeit. Bevor die Welt aus den Fugen geraten war. Seine Rasse hatte den Planeten beherrscht, hatte gedacht, nichts könne sie vom Thron stoßen … bis sie gekommen waren. Man hatte sie besiegt geglaubt, für viele waren sie nie mehr als Spukgestalten gewesen … doch sie waren real. Und sie hatten James und seinesgleichen gejagt, nahezu jeden von ihnen erbarmungslos zur Strecke gebracht und die Zivilisation, wie er sie kannte, unwiederbringlich vernichtet. Sie gingen unglaublich brutal zu Werke, zerfleischten ihre Opfer, weideten sie aus, trennten ihnen die Köpfe ab … und entgegen der landläufigen Meinung kamen sie meistens am Tage.

James schlurfte zu dem abgebrochenen Metallrohr hinüber, das aus der Wand ragte. Ein stetes Rinnsal schmutzigen Wassers troff aus der scharfkantigen Öffnung, und obwohl er keinen Durst verspürte, ließ James es seinen Rachen hinabrinnen. Er hegte die Hoffnung, dass es seinen Magen füllen und somit den Hunger dämpfen würde.

Es klappte nicht. Das Wasser schmeckte falsch, wie so häufig in letzter Zeit. Der abstoßende Geschmack wurde nicht allein durch den Schmutz verursacht. Es war fast, als wolle sein Körper keine Flüssigkeit zu sich nehmen, als brauche er sie überhaupt nicht mehr. Vielleicht hatten seine Gedärme bereits aufgegeben, den Betrieb eingestellt wie eine Fabrik, deren Stromversorgung gekappt worden war. James‘ Verdauung war schon seit längerem seltsam retardiert. Wann hatte er zuletzt auf die Toilette gemusst? Er wusste es nicht. Aber das mochte nicht viel bedeuten, immerhin vergaß er viele Dinge.

Er spähte nach oben, wo versiegendes Dämmerlicht durch die Ritzen zwischen den Bodendielen drang. Obwohl sie unglaublich schwach waren, stachen die Strahlen, glühenden Fächern gleich, in den Keller hinab und ließen ihn knurrend zurücktaumeln, wenn er sie direkt ansah. James fühlte sich nicht mehr wohl im Licht, er hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Inzwischen sah er im Dunkeln auch viel besser, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Sein Sterben ermöglichte ihm  eine beinahe übersinnliche Wahrnehmung.

Obwohl das Licht schmerzte, hob es seine Stimmung ein wenig. Es war Dämmerlicht. Bald hatten sie einen weiteren Tag überstanden! Vielleicht fand James etwas Nahrung für sich und seine Bonnie, wenn er sich in wohlige Schatten gehüllt an die Oberfläche traute …

Bonnie. Er hatte sie schon zu lange allein gelassen. Sie brauchte ihn. Humpelnd ging James zu ihr hinüber, kniete sich hin und zog ihren Oberkörper wieder auf seinen Schoß, wobei er sorgsam darauf achtete, dass sie nicht an dem Knochenstück hängenblieb, das aus seinem Unterschenkel ragte. Er streichelte sie. Flüsterte ihren Namen, oder besser: versuchte es. Was seinem Mund entwich, klang eher wie ein Stöhnen.

Plötzlich schlug sie die Augen auf. Eines davon war dunkel und blind geworden, doch das andere fixierte ihn. Erkannte ihn.

»…Aaaaames«, hauchte Bonnie.

Sie war noch einmal zu ihm zurückgekommen. James nickte stumm, weil seine Zunge zu träge zum Sprechen geworden war. Er hielt ihr die linke Hand vor das gesunde Auge, damit sie den Ring daran erkennen konnte. Ja, gab er ihr zu verstehen. Ja, ich bin es. James, dein Mann.

Im nächsten Moment krallte Bonnie sich um seinen Unterarm, zog die Hand näher an ihr Gesicht heran. »Hunger …«, murmelte sie und schloss die Kiefer um den Ringfinger. Es kitzelte, als sie den Knochen direkt oberhalb des Goldes durchtrennte.

Versonnen betrachtete James den Stummel, während sie geräuschvoll zu kauen begann. Zwei Zähne hingen daran, sie waren ihr ausgefallen.

Hunger …

Wenn er seiner Bonnie auf diese Weise helfen konnte, würde er es tun. Es war die einzige Möglichkeit, ihr selbst unter diesen Umständen seine Liebe zu beweisen.

Gerade, als er ihr auch den Zeigefinger hinhalten wollte, näherten sich dumpfe Laute. Es polterte über ihren Köpfen, Staub rieselte herab und verglühte in den Lichtfächern.

Sie waren hier! Irgendwie hatten James und Bonnie sich verraten, vielleicht durch die Restwärme in ihren Leibern.

Bonnie jaulte freudig, während sie schmatzte. Sie war zu laut! Wenn sie weiter mit solchem Genuss aß, würden sie entdeckt werden. James legte ihr die Hand über den Mund, doch Bonnie missverstand die Geste. Fauchend riss sie ein großes Stück aus dem Daumenballen heraus.

»S … till!«, hustete James. »S … till, Onnie!«

Keine Schritte mehr. Sie waren über ihnen stehengeblieben. Gedämpfte Stimmen unterhielten sich.

Bonnie war nun endgültig erwacht. Sie regte sich, versuchte, von ihm loszukommen, um noch mehr Nahrung zu finden. James klammerte sich an sie, während die Wesen sich wieder in Bewegung setzten. Holz knarrte, Metall schepperte. Sie kamen nach unten.

»Hunger!«, zischte Bonnie. Rötliche Speichelflocken tropften aus ihrer zerfetzten Wange. Die letzten Haare stoben davon. James konnte sie nicht halten, seine zerbissene Hand versagte ihm den Dienst. Bonnie kroch auf allen Vieren zur Kellertür, gerade, als die Schritte sich dieser Stelle näherten.

»Nein!«, keuchte James, da wurden die morschen Bretter auch schon nach innen geschleudert. Grelles Licht schlug ihm entgegen, blendete ihn vollkommen. Er hörte die Monster brüllen, in das Versteck strömen, sich aufteilen.

Jemand kreischte: »Sie hat mich gebissen! Sie hat ein Stück von mir gefressen, verdammte Scheiße!«

Ohrenbetäubender Lärm folgte. Bonnie schrie, lange und gequält. Weiterer Lärm. Nasse Dinge prallten gegen James‘ Gesicht. Dann wurde es schlagartig ruhig, nichts regte sich mehr. Einzig das grelle Licht blieb.

»Der da bewegt sich ja gar nicht.«

»Fuck, die Schlampe hat mich tatsächlich gebissen! Ich …«

»Erschießt ihn.«

»Was? Nein, das das könnt ihr doch nicht …«

»Du bist infiziert. Tut mir leid, Junge.«

Ein lauter Knall, dann wieder Stille.

James wusste, dass das Ende gekommen war. Und es entsetzte ihn weit weniger, als er immer befürchtet hatte. Bald schon würde es keinen Hunger mehr geben.

Etwas klebte an seinen nahezu gefühllosen Fingern. Er strich mit dem Daumen darüber. Es war ihr letztes Geschenk an ihn. Bonnies Haare.

Jemand knurrte: »Sag den Leuten im Lager, dass wir hier ab sofort zombiefreies Gebiet haben.«

Und dann war kalter Stahl an James‘ Stirn.