Hinter den Winkeln

 

Leseprobe

 


Andres Silvas Augen verengten sich. »Verstehe ich dich richtig? Du willst dorthin zurück?«

Florence schob grimmig das Kinn vor. »Sí, jefe.«

»Um was zu tun? Willst du diesmal endgültig draufgehen?«

Eine Ader an Florences Hals begann zu pochen. Sie studierte das Oberhaupt des Silva-Kartells, das es sich neben ihr in einem Rattansessel gemütlich gemacht hatte. Andres war ein stattlicher Mann Mitte dreißig. Sportlich, aber nicht übermäßig muskulös; gepflegt, aber nicht verweichlicht; gut gekleidet, aber dadurch nicht protzig wirkend. Schulterlanges, dunkles Haar, Drei-Tage-Bart. Sie hätte ihn vermutlich anziehend gefunden, wäre da nicht die Eiseskälte in seinem Blick gewesen.

Mühsam zügelte sie ihr Temperament und schluckte herunter, was ihr auf der Zunge lag. Stattdessen entgegnete sie: »Es ist … persönlich.«

Eine von Andres‘ Brauen hob sich. »Der Verlust der Männer macht dir zu schaffen? Ich dachte, ihr Leute aus der Fremdenlegion wärt abgebrühter.«

Florence sah zur Seite. Ihr Blick huschte über die Veranda, den Hang hinab, über den in der Mittagshitze dampfenden Wald und die Bergketten, die dahinter aufragten.

»Das ist interessant.« Offenbar war Andres‘ Neugier geweckt. Sie hörte die Eiswürfel im Glas klimpern, als er an seinem Scotch nippte. »Einer von ihnen hat dir etwas bedeutet, stimmt’s? Du bist doch tatsächlich mit jemandem aus deinem Team in die Kiste gestiegen.«

Als Florence den Blick zurück auf ihren Boss zwang, sah sie diesen schief lächelnd auf sie deuten. »Schwerer Fehler, das hätte dir klar sein müssen.«

Diesmal konnte Florence es erst zurückhalten, als es halb aus ihr heraus war. »Du verdammtes …«

Schlagartig schien die Temperatur um einige Grad zu sinken, als Andres‘ Blick stechend wurde. »Was denn? Sprich dich ruhig aus.«

Florence biss sich auf die Lippen. »Verzeihung. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«

Andres funkelte sie an. »Oh, das weißt du sehr gut. Dein großes Mundwerk wird dich irgendwann den Kopf kosten. Sei froh, dass niemand in Hörweite ist.«

Florence schluckte. Respekt war alles, das lernte man als Erstes, wenn man in die Dienste der Silvas trat. Wer seinen Platz nicht kannte, spielte mit seinem Leben … und verlor dabei nur zu oft.

Sie suchte noch nach einer Möglichkeit, den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen, als der jefe ihr unerwartet das metaphorische Seil abstreifte. »Allerdings weiß ich nur zu gut, was der Verlust geliebter Menschen mit einem anstellt. Ich verstehe dich und werde dir das daher durchgehen lassen. Diesmal.«

Geliebte Menschen, dachte Florence. War Esteban das gewesen – ein geliebter Mensch? Sie hatten nur diese eine Nacht gehabt, in den Monaten zuvor war es reine Kameradschaft gewesen … oder nicht? Florence musste sich eingestehen, dass sie von Beziehungen und Liebe nicht viel verstand. Deshalb war sie geworden, was sie war, und das wiederum hatte das Problem verstärkt. Nur eines wusste sie ganz sicher: Estebans Tod schmerzte sie. Er quälte sie wie nichts zuvor, und sie würde nicht eher ruhen, als bis sie ihn gerächt hatte.

»Danke«, murmelte sie.

Es vergingen einige Sekunden, in denen nur das Klimpern der Eiswürfel zu hören war. »Nein.«

»Was meinst du?«

»Ich lasse dich nicht dorthin zurückgehen«, entschied Andres bestimmt. »Ihr habt das Labor zerstört und das Cruz-Kartell aus der Region vertrieben. Dort gibt es also nichts mehr für mich zu holen.«

»Ich erwarte keine Bezahlung«, versuchte Florence, ihn umzustimmen. »Nur …«

»Aber du würdest weitere Männer mitnehmen«, schnitt ihr der jefe das Wort ab. »Und Ausrüstung. Beides würdest du zu großen Teilen verlieren, wenn nicht komplett. Es ist nicht meine Art, Geld im Klo runterzuspülen.«

Florence holte tief Luft. Ihr Brustkorb bebte dabei. »Dann muss ich auf eigene Faust losziehen.«

»Ich erlaube es nicht.«

Florence hielt dem Blick der Eisaugen stand, als sie sagte: »Dann solltest du mich besser doch umbringen, du kannst es nämlich nicht auf andere Art verhindern.«

Andres schien sie eine Ewigkeit lang anzustarren. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte, er blinzelte noch nicht einmal. Schließlich deutete er einladend auf den zweiten, leeren Sessel. »Drink?«

Es war Florence unmöglich, die Situation einzuschätzen. Aber falls sie gleich draufging, wäre ein letzter Schluck nicht schlecht. Also kam sie der Aufforderung nach und nickte.

Andres goss ihr großzügig aus der Kristallflasche ein, griff dann nach der Zange, fischte zwei Eiswürfel aus einer Schale und ließ sie ins Glas fallen, ehe er es Florence reichte.

Florence nahm den Drink entgegen und sah ihr Gegenüber wartend an. Als nichts geschah, hob sie das Glas an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Der Whisky brannte sich Richtung Magen, was sie sehr begrüßte. Alles, was von dem anderen Schmerz ablenkte, war gut.

»Hast du dich je gefragt, warum wir nach all den Jahren noch immer erfolgreich sind?«, fragte Andres unvermittelt. Er breitete in einer Geste, die das umliegende Land einschloss, die Arme aus. »Wechselnde Regierungen, Milizen, die CIA … niemand konnte uns vertreiben oder gar vernichten. Andere Kartelle kamen und vergingen, nur die Silvas blieben bestehen. Wie ist uns das gelungen?«

Florence vermutete, dass die Frage rhetorisch gemeint war, aber Andres schien auf eine Antwort zu warten. Also riet sie: »Gute Beziehungen, straffe Organisation, knallhartes Durchgreifen …«

Der jefe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das stimmt zwar, aber es ist nicht der eigentliche Grund.« Er beugte sich zu Florence vor. »Ich will dir unser Geheimnis verraten: Wir sind nur deshalb noch hier, weil wir unsere Heimat respektieren. Wir hören auf das, was sie uns zuflüstert, und achten die Tradition. Uns gehört das alles hier nicht, wir werden nur darauf geduldet. Und wir verteidigen es gegen fremde Einflüsse. Darum dürfen wir bleiben. Es ist eine Art Symbiose, verstehst du?«

Florence suchte nach Anzeichen von Trunkenheit in den Zügen ihres Bosses. Sie konnte keine erkennen. »Ich bin mir nicht sicher«, gab sie zurück.

»Wusstest du, dass in der Nähe des Labors, das ihr abgefackelt habt, ein Stamm Eingeborener lebt? Ein Volk, von dem die Öffentlichkeit noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen hat?«

»Nein, das …« Florence knallte ihr Glas auf die Marmorplatte des Tisches, als ihr etwas klar wurde. »Waren die das etwa? Haben sie Esteban …«

»Beruhige dich«, forderte Andres kühl. »Ich denke nicht, dass sie das waren. Sie könnten aber eine Rolle in dieser Geschichte spielen.«

Florence wollte ihn anschreien, endlich mit der Sprache rauszurücken. Ihn beim Kragen packen und ihm so lange die Fresse polieren, bis er sie aufmachte. Stattdessen zwang sie sich zurück in eine einigermaßen entspannte Haltung und nippte nochmals an ihrem Scotch.

»Besser«, entschied Andres. Er sah sich um, als wolle er sich vergewissern, dass auch wirklich niemand lauschte. Aber bis auf die Wachen, die vielleicht hundert Meter entfernt den Hang patrouillierten, war keine Menschenseele zu sehen.

Das Oberhaupt des Silva-Kartells leerte sein Glas in einem Zug und befüllte es erneut, ehe es endlich fortfuhr: »Was ich dir jetzt sage, wissen nur wenige. Es klingt verrückt, ich hielt es früher selbst für Schwachsinn. Aber inzwischen bin ich da anderer Ansicht. Diese Eingeborenen dort … es ist unsere Aufgabe, sie vor äußeren Einflüssen zu schützen. Das haben schon meine Großeltern getan, und meine Enkel werden es in einigen Jahrzehnten immer noch tun. Denn diese Wilden …« Er schnalzte nachdenklich mit der Zunge. »Sie halten etwas im Zaum. Tief im Dschungel ist eine Sache, ein … uraltes Ding, ich selbst habe es nie gesehen. Meine Großmutter nannte es fortuleza oscuro

»Die finstere Festung?«, wiederholte Florence, der es nicht ganz gelang, ihre Belustigung zu verbergen.

»Ich weiß, wie bescheuert es klingt«, fuhr Andres auf, der plötzlich wieder fähig zu sein schien, ihr in der nächsten Sekunde die Kehle durchzuschneiden. Florence biss sich auf die Zunge.

»Dieses Gebiet müssen wir unangetastet lassen, hat mir Großmutter eingeschärft. Die Menschen dort tun etwas sehr Wichtiges, und solange wir sie unterstützen, sind wir gesegnet.

Ich fand das vollkommen idiotisch, aber natürlich habe ich die Wünsche meiner Vorfahren respektiert. Und bis zum heutigen Tag hat sich das als verdammt richtig herausgestellt.«

Abermals beugte er sich zu Florence vor. »Darum musste das Labor zerstört werden. Nicht, weil das Cruz-Kartell uns damit das Wasser abgegraben hat, zumindest nicht nur. Sondern weil es das Land entweiht hat

Florence gab sich größte Mühe, nicht den – durchaus zutreffenden – Eindruck zu erwecken, sie würde den jefe für wahnsinnig halten. »Deswegen soll ich also nicht wieder hin? Damit ich nicht das Land entweihe?«

Andres lachte, kurz und trocken. »Oh nein. Du sollst schlicht deswegen nicht wieder dorthin, weil ich mit deiner Arbeit bisher zufrieden war und dich nicht verlieren will. Und wenn du dorthin zurückkehrst, beißt du ganz sicher ins Gras.«

Sein Blick ging jetzt in die Ferne und seine Stimme wurde leiser, beinahe ein Flüstern. »Meine Großmutter hat mir damals nämlich noch etwas erzählt. Und obwohl sich alles andere als zutreffend entpuppt hat, konnte ich diese eine Sache doch niemals glauben. Bis gestern. Bis du mir berichtet hast, was mit Esteban geschehen ist.«

Andres‘ Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte. »Es wird noch zu deinen Lebzeiten geschehen, sagte sie. Einmal alle drei Generationen wird etwas in der fortuleza so mächtig, dass die Eingeborenen es nicht länger bannen können. Ihnen bleibt keine Wahl, als sich tief in den Wäldern zu verstecken, bis es sich satt gefressen hat. Nichts vermag es zu stoppen, ehe sein Hunger nicht gestillt ist und es sich zum Schlafen niederlegt. Dann töten sie es, werfen es zurück in den Schlund und versiegeln das Tor für weitere drei Generationen. Dieses Wesen ist eins mit dem Dschungel, es tötet ohne Vorwarnung. Und es ist stark genug, um einen Mann in zwei Hälften zu reißen

Ein Frösteln wanderte Florences Rücken hinab. Sie war sich ziemlich sicher, dass es weder von den Eiswürfeln in ihrem Glas noch von Andres‘ Augen hervorgerufen wurde.