Kriechzeug (Die Akte Arkham 2) - Leseprobe

 

Kapitel 1 (der Anfag des Romans)

 

 

Walter Dekker presste einen Bogen aus Butterbrotpapier gegen die von Flechten und Algen bedeckte Granitwand. Während er mit einer Hand das Papier in Position hielt, fischte er mit der anderen ein Stück Holzkohle aus der Tasche seines Mantels. Mit wischenden Bewegungen führte er die Kohle über die zerknitterte Fläche. Im Schein der Grubenlampe, die er sich um die Stirn geschnallt hatte, formte sich allmählich ein Text vor ihm.

»Vermis«, las er. »Wurm.« Mehr verstand er nicht, seine Lateinkenntnisse waren ausgeschöpft. Aber es gab mehr Text, eine ganze Menge davon. Die eingemeißelte Botschaft umfasste vier Absätze, in denen sich winzige Buchstaben drängten. Dem bloßen Auge wären sie unter der grünverkrusteten Oberfläche niemals aufgefallen und hätte Walter nicht die Wand abgetastet, wären sie ihm ebenfalls entgangen.

»Aber ich hab euch erwischt«, nuschelte er lächelnd.

Zigarettenrauch stieg ihm ins Auge. Er blies ihn fort und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. Paffend beendete er seine Arbeit, steckte die Kohle weg und faltete das Papier zusammen. In Gedanken saß er bereits vor dem Kamin, eine dampfende Tasse Pfefferminztee neben sich, und dechiffrierte den Text, als eine scharfe Stimme ihn in die frostige Wirklichkeit zurückriss.

»Hände hoch und ganz langsam umdrehen, du Scheißkerl!«

Es war der tiefe, dröhnende Klang eines voluminösen Brustkorbs. Der Schall hallte durch die Krypta, prasselte von sämtlichen Seiten auf Walter ein. Mit einem Mal war die Kälte allgegenwärtig. Sie kroch in jeden Spalt seiner Kleidung. Walters Nacken kribbelte. Er musste nicht erst das leise Klicken eines Sicherungshebels hören, um zu wissen, dass mit einer Schusswaffe auf ihn gezielt wurde.

»Ganz ruhig«, sagte er, um einen einnehmenden Tonfall bemüht. Er tat wie geheißen und hob die Hände, wobei eine davon noch immer das Stück Papier hielt.

»Du bist mir ja ein komischer Perversling. Was’n das für ein Wisch?«

Walter holte Luft, um die Situation zu erklären, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen.

»Ach, behalt’s für dich! Ich will’s gar nicht wissen, am Ende schlafe ich wegen dir noch schlecht. Soll der Sheriff sich deinen Scheiß anhören.«

Behutsam drehte Walter sich um. Der Lichtstrahl seiner Stirnlampe verscheuchte Schatten, strich über Wände aus verwittertem Granitgestein, streifte einen gigantischen Steinsarg und brach sich schließlich im kondensierten Atem eines massigen Mannes.

»Funzel mir gefälligst nicht ins Gesicht!«

Rasch sah Walter etwas zur Seite. »Verzeihung.«

Der Kerl war mindestens zwei Meter groß und musste gut drei Zentner wiegen. Eine Jeans-Latzhose spannte sich über seinem Bauch, weiter oben brachten breite Schultern ein rotschwarz kariertes Flanellhemd an seine Belastungsgrenze. Das runde Gesicht des Mannes wurde von einem struppigen roten Vollbart eingerahmt, Haupthaar war nur in Strähnen vorhanden und fiel bis auf die Schultern herab. Die Füße des Kolosses steckten in dreckverkrusteten Lederstiefeln, seine fleischigen Hände hielten eine abgesägte Schrotflinte umklammert.

»Ich weiß nicht, für wen Sie mich halten …«, begann Walter.

»Für jemanden, der mitten in der Nacht in eine Krypta einbricht«, blaffte der Berg von einem Mann. »Endlich hab ich dich erwischt, du Schwein. Jeden Tag hab ich auf der Lauer gelegen, aber irgendwie hast du mich immer ausgetrickst. Nur heute nicht.« Er trat kampflustig einen Schritt vor, dicht an den Sarg heran, der sich zwischen ihm und Walter befand, und wiederholte die letzten Worte. »Heute nicht.«

Walter starrte in den Lauf der Waffe. Er gähnte vor ihm wie ein finsterer Abgrund. »Sie müssen mich verwechseln. Ich war …«

»Bullshit! Du bist doch hier, oder nicht?«

»Ja, schon. Es stimmt, ich bin hier eingedrungen.«

Der Mann spuckte aus. Walter bemerkte, dass Dampf von seinem Oberkörper aufstieg. Vermutlich verhinderte eine dicke Speckschicht, dass der Kerl jemals fror. »Na, siehst du. Und jetzt halt die Klappe. Du kannst gleich den Sheriff volllabern.«

»Aber dies ist das erste Mal, dass ich den Friedhof unbefugt betreten habe«, ignorierte Walter die Anweisung. »Und ich bin auch kein Perversling. Ich habe lediglich die Inschrift an der Rückwand abgepaust.«

»Du sollst die Klappe halten.« Der kalte Stahl der Gewehrmündung wurde gegen Walters Stirn gepresst. »Was macht man eigentlich mit so alten Leichen, hm? Damit treiben kann man’s ja wohl nicht mehr, und falls doch, will ich’s mir lieber nicht vorstellen. Isst du sie auf? Oder ziehst ihnen schicke Kleidchen an, nachdem du sie mit nach Hause genommen hast?«

Walter leckte sich die Lippen. »Hier wurden Leichen geraubt? Und Sie denken, ich hätte das getan?«

»Schnauze, hab ich gesagt!«

Speicheltropfen trafen Walters Gesicht. Er kniff die Augen zusammen. »Dann sollten Sie mir vielleicht nicht so viele Fragen stellen.«

Der Mann blinzelte mehrmals. »Schätze, da ist was dran. Also halten wir jetzt beide die Klappe und warten, bis man dich einkassiert. Kann nicht mehr lange dauern.«

Walters Zigarette war bis auf den Filter heruntergebrannt. Da er nicht wagte, eine Hand herunterzunehmen, spuckte er den Stummel auf den Boden.

»Dir ist auch gar nix heilig, was?«

Walter überlegte, ob er den Mann an sein Schweigegelübde erinnern sollte, doch der Überlebensinstinkt in ihm gewann die Oberhand. Er zuckte stattdessen entschuldigend mit den Schultern.

Unvermittelt erklang in einigen Metern Entfernung das protestierende Kreischen rostigen Metalls.

»Wir sind hier unten!«, brüllte der rothaarige Kerl. »Hab ihn erwischt!«

Walter seufzte. Was ein produktiver Abend zu werden versprochen hatte, entwickelte sich zunehmend zum Desaster. Er mochte Sheriff Dingby nicht, und diese Empfindung beruhte auf Gegenseitigkeit. Es musste für den Polizisten ein regelrechtes Fest sein, ihn hier unten zu erwischen. Außerdem würde Dingby vermutlich keine Sekunde damit zögern, Walter sämtliche Verbrechen anzuhängen, die auf dem Friedhof ansonsten begangen worden waren. Und nach dem zu urteilen, was der vierschrötige Kerl mit dem Gewehr gesagt hatte, handelte es sich dabei nicht gerade um Kavaliersdelikte.

Wieder quietschte Metall, das Rasseln einer Kette folgte.

»Sheriff?«, erkundigte sich der bärtige Mann. Unsicherheit schwang in seiner Stimme. Als er nach fünf Sekunden noch immer keine Antwort erhalten hatte, wiederholte er den Ruf. »Sheriff?«

Walter starrte die glitschigen Stufen empor, die an die Erdoberfläche führten. Sie glänzten feucht im Licht seiner Stirnlampe, allerdings konnte es nicht mehr lange dauern, bis das Wasser den Aggregatzustand wechselte. Das Innere der Krypta kam ihm vor wie ein Kühlhaus.

Weiter oben mündete die Treppe in ein verwittertes Mausoleum, allerdings endete Walters Sichtbereich einige Stufen zuvor. Er konnte nicht erkennen, was dort oben vorging, hatte diesbezüglich jedoch eine Ahnung. Und sie gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Jemand raubt hier Leichen, sagen Sie? Wann ist das zuletzt geschehen?«

»Du weißt doch ganz genau, wann du hier warst!« Die Unsicherheit des Mannes schlug in Wut um. Trotz der darüber liegenden Fettschicht traten die Knöchel seiner Finger weiß hervor, als er die Waffe fester umklammerte.

»Ich sagte doch bereits, dass ich damit nichts zu tun habe«, entgegnete Walter scharf. »Aber falls ich hier eine Leiche ausgraben wollte, könnte ich das erheblich ungestörter tun, wenn der Friedhofswärter währenddessen in einer Krypta eingesperrt ist. Denken Sie nicht auch?«

Der Mann riss die Augen auf. Ohne ein Wort zu sagen, wirbelte er herum – erstaunlich behände für jemanden mit seiner Körperfülle – und stapfte die ausgetretenen Stufen hinauf. Wenige Augenblicke später wurde ein Klappern laut, darunter erklang wieder das Rasseln von Kettengliedern.

»Scheiße!«, hallte es zu Walter herab. »Wer war das, verdammt noch mal? Lass mich raus!«

Walter stöhnte. »Darf ich annehmen, dass es mir nun gestattet ist, die Hände herunterzunehmen?«

Das Klappern verstärkte sich. Offenbar wurde am schmiedeeisernen Tor des Mausoleums gerüttelt. »Scheiße! Waren das deine Komplizen?«

»Selbstverständlich«, rief Walter. Er entschied, dass ihm die Sache zu dumm wurde, nahm eigenmächtig die Hände herunter, steckte das Papier ein, bückte sich und griff an seinen rechten Knöchel. »Und Teil unseres raffinierten Plans war es, dass sie mich hier unten einsperren, damit ich jämmerlich erfriere. Haben wir toll eingefädelt, finden Sie nicht?«

Die Geräusche von oben klangen, als würde ein Bulle versuchen, seinen Stall in Kleinholz zu verwandeln. Walter fragte sich, ob in dem Mann tatsächlich genug rohe Gewalt steckte, um das Tor aufzubrechen. Nach einem Moment schüttelte er stumm den Kopf.

Wir sind hier schließlich nicht in Hollywood.

»Jetzt komm mir bloß nicht dumm, sonst verpass ich dir doch noch ’ne Kugel!«

Walter löschte mit einem schnellen Griff an die Schläfe seine Lampe und begann damit, die rutschigen Stufen emporzusteigen. Er musste sich nicht sonderlich Mühe geben, leise zu sein, weil der Mann noch immer einen solchen Lärm veranstaltete, dass jedes andere Geräusch darin unterging. Die letzten drei Stufen überwand Walter mit einem entschlossenen Sprung. Dann war er in der Krypta und huschte über den steinernen Boden. Ehe der Koloss reagieren konnte, hatte er ihm die Mündung seiner Glock in den fleischigen Nacken gepresst.

»Das denke ich nicht. Jetzt lassen Sie bitte das Gewehr fallen. Anschließend beruhigen wir uns und sehen zu, dass wir hier herauskommen. Einverstanden?«

Der Atem des Kerls klang wie ein gigantischer Blasebalg. Fauchend erweiterte sich der kesselförmige Brustkorb, zischend fiel er in sich zusammen, wobei das Ausströmen der Luft von einem unüberhörbaren Zittern begleitet wurde. So viel Wut schwang darin, dass sie beinahe mit Händen zu greifen war.

»Tun Sie nichts Dummes«, bat Walter, der wenig Lust verspürte, den Tag mit Whisky anstelle von Tee zu beschließen. »Ich möchte Sie nicht verletzen, es geht hier nur um unser beider Sicherheit.«

»Und warum zielst du dann auf mich, du Scheißkerl?«

»Aus demselben Grund, aus dem Sie mich noch vor wenigen Sekunden mit einer Waffe bedroht haben. Ich fürchte mich vor Ihnen.«

Ein Ruck ging durch die Gestalt, die sich als Schattenriss vor Walter abzeichnete. Der Nachthimmel vor dem Tor war wolkenverhangen. Dunkelheit hatte schon vor Stunden um sich gegriffen und den Großteil der optischen Informationen verschleppt.

»Ich hab keine Angst! Hab ich noch nie gehabt. Ich wollte nur, dass du Mistsau nicht abhauen kannst.«

»Wie auch immer«, meinte Walter ungerührt. »Und jetzt weg mit der Waffe.«

Das Gewehr fiel klappernd zu Boden und rutschte die Stufen hinab. Walter konnte hören, wie es irgendwo weiter unten zu liegen kam.

»Es stimmt«, sagte der Kerl mit eindringlicher Stimme und drehte sich plötzlich um. Walter trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Hat meine Ma schon immer gesagt. Nicht mal als Teppichratte hatte ich Angst vor Spinnen und so ’nem Zeug. Darum hab ich auch die Stelle hier angenommen, als ich aus der Schule raus war. Ma meinte, es würde mir nichts ausmachen, und sie hatte verdammt noch mal recht.«

Walter schaltete die Lampe wieder an und sah sich dem schiefen Lächeln eines geistig Minderbemittelten gegenüber. Plötzlich fühlte er sich schuldig. »Ich werde meine Pistole jetzt herunternehmen. Vertragen wir beide uns?«

Buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wenn der Sheriff kommt, nimmt er dich aber trotzdem mit. Verbrechen müssen bestraft werden.«

»Meinetwegen.« Walter senkte den Arm mit der Glock, darauf gefasst, ihn beim kleinsten Anzeichen einer Bedrohung wieder hochzureißen. Nichts dergleichen geschah. Als er die Augen des Mannes studierte, glaubte er, in die Leere des Alls hinauszustarren. »Mein Name ist Walter Dekker. Wie lautet Ihrer?«

»William, William Poole. Wie das Schwimmbecken, nur mit ›E‹ am Schluss.«

»Also schön, William.« Walter steckte die Glock weg, schlug den Deckel seiner ledernen Umhängetasche zurück und kramte in den finsteren Tiefen nach seinem Dietrichset. »Dann lassen Sie mich bitte an das Tor heran, damit ich das Schloss der Kette knacken kann.«

»So was tun Verbrecher!« William klang wieder wütend. »Zum Glück hab ich den Sheriff gerufen.«

»Was glauben Sie, wie ich vorhin in die Krypta gelangt bin?«, murmelte Walter und beugte sich vor, um durch die Streben des Tors nach dem Vorhängeschloss zu greifen. »Und ich bin kein Verbrecher, sondern Privatdetektiv. Vermutlich haben Sie bisher nichts von mir gehört, weil ich noch nicht lange in der Stadt bin.«

»Echt jetzt? Du suchst Spuren und Fingerabdrücke und so? Jagst die bösen Jungs, wie im Fernsehen?« Mit einem Mal klang William wie jemand, der dreißig Jahre jünger und mindestens zweihundert Pfund leichter war.

»Meistens ist es deutlich langweiliger«, entgegnete Walter, während er mit seinen Dietrichen nach den Schließzylindern tastete. »Und wenn nicht, wünsche ich mir oft, es wäre so. Als Detektiv muss man …«

Er verstummte, als eine kaum merkliche Vibration die Krypta durchfuhr. Gleichzeitig tönte ein merkwürdiges Summen durch die Nacht.

»Scheiße, was war’n das?«

Walters Nackenhärchen stellten sich auf. »Ich weiß nicht, William.«

Aber angenehm war es nicht, dachte er. Das war kein Erdbeben, sondern etwas anderes. Etwas … Elektrisches.

Es klang verrückt, aber so hatte es sich angefühlt. Als wäre Walters Körper eine Zungenspitze, die für den Bruchteil einer Sekunde an beide Pole einer Neun-Volt-Blockbatterie gehalten worden war. Die Haare an seinen Unterarmen sträubten sich. Zudem schien es noch kälter geworden zu sein, denn seine Finger wurden taub, was ihm das Knacken des Schlosses erschwerte.

Ein Geruch stahl sich in die Luft, der Walter ganz und gar nicht behagte. Er war bisher nicht wahrzunehmen gewesen und sein plötzliches Auftauchen ließ darauf schließen, dass sich etwas geöffnet hatte, das besser geschlossen geblieben wäre. Aus den Tiefen der Krypta drang der Gestank von Gärung und Zerfall zu Walter herauf.

Es wurde höchste Zeit, ins Freie zu kommen. Walter verstärkte seine Bemühungen, spürte inzwischen aber kaum noch etwas. »Mist.« Widerwillig zog er die Hände zurück und hauchte Wärme in sie hinein.

»Hier ist irgendwas.« William sagte es in nüchternem, beinahe unbekümmertem Tonfall. Er deutete die Stufen hinab. »Es kommt aus den Wänden, glaub ich.«

Walters Herzschlag beschleunigte sich. Unmöglich, dachte er, doch insgeheim wusste er es besser. Er fühlte es ebenfalls. Wie es sich unter ihm wand, unter den Bodenplatten, hinter den Wänden, wie es sich zu ihnen durchnagte.

»Ich geh besser meine Flinte holen«, brummte William und platschte die Stufen hinunter, hinein in völlige Finsternis. Wären Walters Hände nicht wieder mit dem Schloss beschäftigt gewesen, hätte er sich verwundert die Augen gerieben. Wie es schien, verspürte dieser Mann tatsächlich keinerlei Angst.

Walter schüttelte energisch den Kopf, zwang seine Aufmerksamkeit zurück zu dem Schloss, auf die zu verrichtende Arbeit. Noch vor wenigen Minuten hatte er dieses Hindernis ohne Mühe überwunden. Warum sträubte es sich jetzt dermaßen?

Eine Bewegung jenseits des Tors lenkte ihn abermals ab. Etwas huschte dort durch die Nacht, zwischen Reihen schiefer Grabsteine, die wie das sich erneuernde Gebiss eines Hais nach der Dunkelheit schnappten. Ein geduckter Umriss, zu breit, um ein Fuchs oder Waschbär zu sein, aber zu flach für einen Menschen. Walter glaubte, ein merkwürdiges Klicken zu hören, das die Bewegungen untermalte. Der Klang rief in ihm Assoziationen zu Krebsen und Langusten wach, obwohl ihm nicht ganz klar war, wieso.

»Was geht hier vor?«, murmelte er beunruhigt.

»Autsch, verdammter Mist! Dir zeig ich’s!«

Ehe Walter dazu kam, William nach dem Grund seines Ausrufs zu fragen, ging unten die Schrotflinte los. Der Lärm dröhnte ohrenbetäubend durch die Krypta und hinterließ ein schrilles Surren in Walters Ohren.

»Mistvieh! Und du kriegst auch, was dir zusteht.«

Eine Art fleischiges Klatschen hallte durch das Mausoleum, dann knirschte und knackte es am Fuß der Treppe lautstark.

Walters Magen zog sich zusammen. Gefahr, meldeten all seine Sinne, du musst hier raus! Knack endlich das Schloss, knack es, nun mach schon, verdammt noch mal!

Zwischen Walters steifen Händen klickte es leise. Um ein Haar wäre ihm ein erleichtertes Seufzen entwichen. Er beeilte sich, seine Dietriche zu verstauen und die um die Streben des Tors geschlungene Kette abzustreifen. Sie fiel rasselnd zu Boden.

Walter warf sich gegen die schmiedeeiserne, von scharfen Zacken gekrönte Barriere und sprengte sie regelrecht auf. Kaum war er im Freien, zog er seine Pistole und suchte die Umgebung nach den huschenden Umrissen ab.

»Das Tor ist offen, William!«, rief er über die Schulter.

Noch immer drangen die Geräusche eines brutalen Kampfs aus der Krypta. »Ich komme gleich!«, lautete die Entgegnung des Friedhofswärters. »Muss hier nur noch was klarstellen.«

Mit wem oder was rang der Hüne? Egal, Walter hatte es hier oben selbst mit Feinden zu tun. Denn die verstohlenen Dinger, von denen er nun schon mindestens drei gesehen hatte, waren ihm mit Sicherheit nicht freundlich gesinnt. Ihr gespenstisches Klicken umkreiste ihn. Walter wirbelte immer wieder herum, richtete die Glock in sämtliche Richtungen, in denen er etwas zu hören glaubte. Aber die dunklen Formen verschwanden stets hinter einem Grabstein oder Baumstamm, ehe er sie genauer erkennen konnte. Klar war nur, dass sie sich ihm näherten.

Der Kreis wird enger gezogen.

Womöglich würde ihm keine andere Möglichkeit bleiben, als wieder das Mausoleum zu betreten. Wollten ihn die Dinger etwa darauf zutreiben?

Ungeachtet der Kälte traten Schweißperlen auf Walters Stirn. »William? Ich glaube, ich könnte hier Hilfe gebrauchen.«

Noch einmal krachte ein Schuss, diesmal in etwas erträglicherer Lautstärke. »Komme!« William klang, als habe er eine so alltägliche Handlung wie das Hinausbringen des Mülls hinter sich.

Klick-klack-klick. Es wurde immer lauter, schien aus allen Richtungen gleichzeitig auf ihn einzuprasseln.

»Geben Sie sich zu erkennen!«, rief Walter den Dingern zu. »Zwingen Sie mich nicht, zu schießen.«

»Was sind das denn für Geräusche?«, grollte es plötzlich dicht an seinem Ohr.

Walter erschrak dermaßen, dass er beinahe einen Schuss abgegeben hätte. »Großer Gott, William! Schleichen Sie sich doch nicht so an mich heran.«

Wie macht er das?, fragte er sich in einem entlegenen Winkel seines Verstands. Ein Mann mit seiner Körperfülle sollte nicht in der Lage sein, sich so anzupirschen. Aber vorhin habe ich ihn auch nicht kommen hören.

Er sah kurz zur Seite, oder zumindest hatte er das vorgehabt. Als der Strahl von Walters Lampe auf William zu liegen kam, gelang es ihm aber sekundenlang nicht, ihn weiterwandern zu lassen.

»Was war da unten los?«, hauchte er.

William war mit einer Art Schleim bedeckt. Er troff aus seinen Haaren, rann ihm über die Latzhose und sammelte sich in einer Pfütze zu seinen Füßen. Besonders viel von der Substanz fand sich auf den Unterarmen und der zur Faust geballten, linken Hand des Friedhofswärters. Mit der Rechten umklammerte er die Schrotflinte. Walter hielt es für ein kleines Wunder, dass William die besudelte Waffe nicht aus den Fingern glitt.

Der Hüne zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht genau, es war dunkel da drin. Irgendwelche Würmer, denk ich. Haben mich gebissen, siehst du?« Er zeigte Walter seine rechte Schulter, wo ein Loch im Flanellhemd klaffte. Blut sickerte daraus hervor. »Aber denen hab ich’s gegeben. Einen hab ich zerquetscht, der beißt niemanden mehr.«

Walter blinzelte mehrmals. Würmer? Wie um alles in der Welt sollte ein Wurm eine solche Verletzung hervorrufen?

Dann fiel ihm ein, dass er hinter den Wänden und unter dem Boden etwas gespürt hatte. Etwas, das sich gewunden hatte …

Wieder machte sich sein Magen bemerkbar. Walter beschloss, dass er sich später darüber Gedanken machen würde, schließlich gab es eine akute Bedrohung in der unmittelbaren Umgebung.

»Ich weiß nicht, was das hier für Dinger sind«, sagte er. »Aber es sind mehrere, und sie kommen näher.«

»Was geht heute bloß für eine komische Scheiße ab?«, knurrte William und brachte das Gewehr in Anschlag. »Man könnte fast meinen … oh, verdammt. Verdammte Kacke.«

Er trampelte los, direkt auf das Klicken zu. Walter hätte ihn gerne zurückgehalten, wusste aber, dass er eine solche Kraft nicht mehr bremsen konnte, wenn sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt hatte.

»Die waren das also! Haben mich wieder verarscht, verfickter Mist!«

Vorsichtig näherte Walter sich dem gebeugt dastehenden Mann. Mittlerweile kam es ihm vor, als würde ein riesiger Schwarm Heuschrecken ihn umschwirren; verstohlene Heuschrecken, die so groß wie Bull Terrier waren. Die vielstimmigen Klicklaute vereinten sich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie, die es schwer machte, sich zu verständigen.

»Wir müssen uns wehren!«, rief er, doch William starrte nur wortlos zu Boden – beziehungsweise in den Boden hinein, denn wie Walter nun erkannte, war das Grab, vor dem William stand, geöffnet worden. Brocken gefrorenen Erdreichs lagen um das Loch verteilt, in der Tiefe enthüllte Walters Stirnlampe nichts als einige morsche Holzfragmente.

Er packte William an der Schulter. Als er dabei Kontakt zu dem Schleim bekam, bereute er diese Handlung sofort. »Wir können uns das später ansehen. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe!«

»Ach, die Viecher haben, was sie wollten, und verschwinden doch schon wieder«, brummte William niedergeschlagen.

Walter fiel auf, dass er den Friedhofswärter verstehen konnte, obwohl dieser recht leise sprach. Das Klicken schwoll tatsächlich ab. Auch das erdrückende Gefühl der Bedrohung, das sich einer Würgeschlange gleich immer enger um ihn gezogen hatte, ließ nach.

Geduckte Formen huschten davon, verschmolzen mit den nächtlichen Schatten. Binnen weniger Sekunden legte sich Stille über das Friedhofsgelände.

Sie hätten uns gehabt, durchfuhr es Walter. Es waren so viele, niemals hätten wir es mit ihnen aufnehmen können. Warum sind sie abgezogen?

»Sieh einer an«, durchschnitt eine gehässige Stimme die Ruhe. »Walter Dekker, Privatschnüffler und Grabräuber. Wer hätte das gedacht! Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, werfen Sie jetzt ganz schnell die Waffe weg.«

Walter atmete stöhnend aus. Sein Atem formte eine Nebelwolke, die sich lange in der klammen Luft hielt. »Sheriff Dingby. Sie sind reichlich spät dran.«