Schmerzfresser - Damit sie leben, musst du leiden

Leseprobe



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Als ich im Krankenhaus zu mir kam, fühlte ich mich wohl. Eingelullt in die wärmenden Schleier von Schmerzmitteln lag ich einfach nur da. Das ständige Gebrabbel des Alten, mit dem ich mir das Zimmer teilte, drang kaum an mein Bewusstsein, die Erinnerung an die schreckliche Nacht war dazu verdammt, hinter einer Wand der Pharmazie zu lauern. Wann immer die Wälle zu bröckeln begannen und die Realität auf mich einprasselte, erschien ein Pfleger und tauschte den Infusionsbeutel aus, der mich über einen Schlauch mit einem steten Strom an Gleichgültigkeit versorgte.

Zeit verstrich, doch weder konnte ich sagen wie viel, noch kümmerte es mich. Irgendwann war der Alte weg, an seiner Stelle lag eine Frau mit bandagiertem Schädel. Mir wurde bewusst, dass ich ebenfalls Verbände trug, außerdem bemerkte ich in einem Moment der Klarheit erschrocken, dass man mir einen Katheter gelegt hatte.

Wieso war das nötig, fragte ich mich. Bin ich nicht mehr selbst imstande, aufs Klo …

Dann gab es die nächste Dosis und die störenden Fragen wurden immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummten. Wie bei einem Song aus den Achtzigern, der am Ende ausfadet.

Als ich wieder bewusst etwas mitbekam, schienen die Verbände sich vermehrt zu haben. Selbst mein Oberkörper war nun damit umschlungen, dabei hatte ich mir dort keine Wunden zugezogen. Während ich noch versuchte, die Lage zu begreifen, tauchten Schmerzen am Horizont meiner Wahrnehmung auf. Unerbittlich marschierten sie aus sämtlichen Himmelsrichtungen auf mich zu, von scheinbar jedem Fleck meines Körpers aus. Sie brachten eine allumfassende Erschöpfung mit sich, die nicht durch die Medikamente verursacht wurde. Ich hob einen tonnenschweren Arm vor die Augen und etwas in mir gefror.

Es kann nicht meiner sein, sagte ich mir. All die Narben und neuen Verbände, teilweise rot von frischem Blut … und er ist so dürr, so schlaff. Als hätte man die Muskeln entfernt …

Eine der Maschinen, an die ich angeschlossen war, begann zu piepsen.

»Na, na, beruhigen Sie sich«, ordnete eine männliche Stimme an. Hände, die viel stärker als meine eigenen waren, drückten mich aufs Kissen zurück, etwas stach mich in den Hals. Die Angst verschwand und nahm den Rest der Welt mit sich.

Ein scharfes Brennen im Unterleib war das nächste, was ich mitbekam. Es fühlte sich an, als würde man etwas aus mir herauszerren. Ich stöhnte.

»Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten die dich hier ruhig ausbluten lassen können. Kannst Tom dafür danken, dass er so gut zahlt.«

Ich wurde emporgehoben, die Welt kippte, etwas drückte gegen meinen Bauch. Wunden öffneten sich, es tat weh. Ich wehrte mich, strampelte, doch etwas packte meine Glieder und hielt sie mit spielerischer Leichtigkeit fest.

»Ist nicht mehr viel von dir übrig«, sagte der Mann. »Die haben dich ziemlich gut versteckt. Hat ne ganze Weile gedauert, dich aufzuspüren.«

»Was … wer …«

Ich hing über einer Schulter. Die Schulter steckte in einer Lederjacke. Im Nachbarbett lag keine Frau mehr, stattdessen war dort ein Mann, dem ein Bein amputiert worden war.

»Ich seh‘ schon, sie haben dich ordentlich weggeballert. Mussten sie wohl, sonst wärst du nicht als katatonisch durchgegangen. Wahrscheinlich gehört hier nicht jeder zu ihnen, und die Krankenakte muss schließlich stimmen.«

Das Bett entfernte sich von mir. Ein Türsturz zog vorbei, dann befand ich mich in einem lindgrün gestrichenen Flur. Grelles Neonlicht stach mir in die Augen.

»Was tun Sie …«

»Sei einfach still, okay? Dann schaffen wir es vielleicht hier raus.«

Wie ein Sack Kartoffeln wurde ich abgestellt. Obwohl mein Hintern weich landete, wanderte die Erschütterung an der Wirbelsäule hoch und ließ meine Kiefer aufeinanderknallen.

»Ein bisschen Körperspannung wär nicht schlecht«, brummte der Mann, während der Flur an mir vorbeizugleiten begann.

»Roll…stuhl?«, krächzte ich.

»Hundert Punkte.«

Ich wandte den Kopf (er wackelte hin und her, ich konnte ihn kaum halten), sah die riesigen Hände an den Griffen, ließ den Blick nach oben wandern, erkannte das Gesicht mit der deformierten Nase.

»Robert?«

»Auch das war nicht der Zonk.«

Er erwiderte meinen Blick nicht. Stattdessen huschten seine Augen umher, der Mund war dabei ein flacher Strich. Müsste man das Wort Anspannung verbildlichen, hätte man in diesen Sekunden ein Foto von ihm machen sollen.

»Wo bin ich? Was ist los?«

»Später. Jetzt halt die Klappe und tu so, als wärst du weggetreten. Sollte dir nicht allzu schwer fallen.«

»Aber wieso …«

»Wer sind Sie? Und wo bringen Sie diesen Patienten hin?«

Es war eine Frau. Sie klang, als wäre sie es gewohnt, andere herumzukommandieren.

Robert seufzte. »Ich bin ein Angehöriger. Mein Bruder soll zum Röntgen.«

»Aha. Auf wessen Anordnung?«

»Sie sind nicht mein Bruder«, lallte ich.

»Weisen Sie sich aus oder ich rufe den Sicherheitsdienst!«

»Jetzt hören Sie mal, ich bin nur …«

»Auf wessen Anweisung hin transportieren Sie diesen Mann?«

Noch ein Seufzen. Eine Art Knarzen folgte, als das Leder von Roberts Jacke bewegt wurde. Einen Herzschlag später krachte es trocken.

»Okay, jetzt haben wir es eilig«, sagte Robert und schob mich an der Bewusstlosen vorbei.

»Sie haben eine Frau geschlagen«, rief ich anklagend. »Haben Sie keinen Anstand?«

Robert kam ins Stocken. Er schluckte hörbar. Dann schob er mich weiter, noch schneller als zuvor. Es ging um die Ecke, direkt auf eine Reihe von Fahrstühlen zu. »Nicht mehr«, sagte er knapp.

Ein pling ertönte, Fahrstuhltüren glitten auf, ich wurde in die Kabine bugsiert. Robert drosch mit der flachen Hand auf einen Schalter. »Komm schon, komm schon!«, forderte er, während die Türen gemächlich aufeinander zuglitten.

Kurz bevor der Spalt sich schloss, sah ich ihn. Den Arzt, der keiner war. Er kam den Flur herabgeschlendert, sein Gang war merkwürdig, als seien seine Knie zu gelenkig. Über seinem weißen Kittel war kein Gesicht.

»Scheiße«, murmelte Robert.

Rotglühende Augen fixierten mich, das Ding deutete anklagend in unsere Richtung und begann, zu brüllen.

Die Fahrstuhltüren schlossen sich, mein Magen wurde angehoben.

»Lass jetzt bloß die Hände im Rollstuhl«, zischte Robert durch zusammengebissene Kiefer. »Ich fürchte, es wird haarig.«

Ein weiteres pling. Kaum war der Spalt breit genug für den Rollstuhl, wurde mein Kopf vom Schub nach hinten geschleudert. Dieser Flur war hellblau, hinter offenstehenden Türen lagen Kinder in den Betten. Eine Familie musste aus dem Weg springen, weil sie sonst mit meinen Knien kollidiert wäre.

»Hey, was soll das?«

»Passen Sie doch auf!«

»Leckt mich«, brummte Robert und schob mich um die nächste Kehre. Der Empfangsschalter kam in Sicht, ausladend und aus hellem Holz. Dahinter lag der zweiflüglige, gläserne Haupteingang. Es waren noch vielleicht dreißig Meter, einmal quer durch die Halle.

»Fast geschafft«, knurrte Robert, der den fragenden Blick der Dame hinter dem Empfang einfach ignorierte.

»Haltet den Mann! Er entführt einen Patienten!«

Die Stimme kam mir bekannt vor. Ich wandte erneut meinen Wackel-Schädel und sah die Schwester von gerade eben. Sie war aus einem Treppenhaus getorkelt und hielt sich die Wange.

»Verdammt, die kann echt was wegstecken«, schimpfte Robert hinter mir. Auch in der anderen Richtung wurde inzwischen geredet: Die Frau am Empfang sprach in ein Telefon. Mir gefiel nicht, wie sie mich ansah.

Plötzlich war der Arzt vor uns. Bevor ich auch nur schreien konnte, hob sich der Rollstuhl und katapultierte mich durch die Halle. Ich riss die Arme hoch (oder versuchte es zumindest) und überschlug mich wie eine Stoffpuppe.

Hinter mir erklangen die Geräusche einer Auseinander-setzung. Menschen schrien, keuchten, dazwischen waren die dumpfen Geräusche von Schlägen. Irgendwie gelang es mir, mich in eine sitzende Position aufzurichten. Die Schmerzmittel hatten inzwischen so weit nachgelassen, dass ich glaubte, mir jeden Knochen mehrmals gebrochen zu haben. Durch Tränen hindurch sah ich Robert mit drei Pflegern ringen, während das Ding daneben stand und verächtliche Worte ausspie. Robert streckte einen der Männer nieder, gleichzeitig drehte ihm aber ein anderer den Arm auf den Rücken. Der dritte stürzte herbei, zusammen drückten sie Robert nieder. Das Wesen im Arztkittel beugte sich über ihn und schien ihm etwas zuzuflüstern. Roberts Gesicht verzerrte sich.

Sie haben ihn geschnappt.

Ich war immer noch nicht genügend Herr meiner Sinne, um beurteilen zu können, ob diese Entwicklung gut oder schlecht für mich war. Jemand packte mich unter den Achseln und schleifte mich zu der Szene hinüber.

»Beinahe wären Sie uns noch einmal entwischt«, sagte eine Stimme, die nicht menschlich sein konnte. »Aber schlussendlich haben Sie uns nur ein weiteres Mahl geliefert.«

Ich ertrug den Anblick des formlosen Kopfes nicht. Die Augen schienen meine geistige Stabilität zu verbrennen. Es war etwas Hypnotisches an ihnen, und jenseits davon lauerten namenlose Schrecken. Sie würden mich anspringen, sich in meinem Verstand verbeißen und ihn zerfleischen, wenn ich zu lange hinsah. Ich wollte den Blick abwenden, konnte es aber nicht. Eine Verbindung war geschaffen worden, eine Brücke, über die mir die Kontrolle entzogen wurde. Die glühenden Kugeln kamen näher, wuchsen, nahmen mich ein.

Robert röhrte wie ein verwundeter Stier und bäumte sich auf. Er überraschte seine Bewacher, bekam einen Arm frei und schlug nach dem wabernden Kopf des Monsters. Seine Faust ließ ihn zerfasern. Sie glitt hindurch, zwar nicht, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen, aber doch so leicht wie durch Wasser.

Das brach den Bann. Die Augen verloren kurz den Kontakt zu mir. Schreiend sah ich weg, in Richtung Boden. Roberts Jacke blähte sich von dem Schlag, darunter entdeckte ich etwas im Hosenbund. Adrenalin gab mir die Kraft, die meinem Körper an sich fehlte. Ich griff nach der Pistole, richtete sie auf die Kreatur vor mir und drückte ab.

Der Rückstoß schleuderte die Waffe empor, meine schlaffen Arme konnten sie nicht bremsen. Dunkles Metall kollidierte mit meiner Stirn und ich verlor einmal mehr das Bewusstsein.


***