Strange Days - Band 2

 

Leseprobe 2

 

»Sie haben den Baum dort gerammt«, murmelte Hiller und nickte in die entsprechende Richtung, als er Brauns fragenden Blick spürte. Der Mann würde noch an sich zu arbeiten haben, wenn er jemals die Beobachtungsgabe eines wirklich guten Polizisten erwerben wollte. Die Hinweise waren eindeutig: abgeplatzte Borke, Splitter von zertrümmerten Scheinwerfern, ein abgerissener Außenspiegel …

Aber weshalb waren sie gegen den Baum gefahren? Es machte keinen Sinn.

Er schüttelte den Kopf und machte eine winkende Geste mit der Linken. »Weiter. Aber langsam.«

Hiller konnte nicht sagen, ob es sinnvoll war, im Wagen zu bleiben. Er hörte einfach auf seinen Instinkt. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen war die Situation unvorhersehbar geworden, und in einem solchen Fall war ein gewisser Schutz durch das Fahrzeug sicherlich nicht verkehrt. Ein gewisser Schutz und die Möglichkeit, sich mit einem raschen Tritt aufs Gaspedal in Sicherheit zu bringen …

Der Wald war alt und dicht; abseits des Weges gab es ungefähr eine Million Stellen, an denen man ihnen auflauern konnte. Hiller überlegte, ob er seine Befehle bezüglich des Gebrauchs der Dienstwaffen widerrufen sollte. Als er nach dem Mikrofon griff, funkte er aber stattdessen Fräulein Bolinski an: »Zentrale, hier ist Wagen 44. Irgendetwas Neues von Frau Nitsche?«

»Nein, Herr Hiller. Wir haben seit etwa zehn Minuten nichts mehr von ihr gehört.«

»Danke. Wagen 44 Ende.« Er hängte das Mikrofon wieder ein und bedeutete Braun, um den alten Baum herumzufahren.

»Von dort kommt auch der Gestank, wenn mich nicht alles täuscht«, murmelte Braun. Hiller gab ihm im Stillen recht. Vielleicht war es um die Beobachtungsgabe des Mannes doch nicht ganz so schlimm bestellt.

Braun umrundete den mächtigen Stamm. Sie mussten sich durch die Überreste eines dornigen Gebüschs quälen, das augenscheinlich vor Kurzem schon einmal niedergefahren worden war. Dahinter erstreckte sich ein lichtdurchfluteter Dschungel aus satten grünen Cannabispflanzen.

»Du lieber Himmel«, murmelte Hiller. Das war die größte Menge illegal angebauten Marihuanas, der er sich jemals gegenüber gesehen hatte. Normalerweise fanden sie ein, zwei Blumentöpfe oder -Kästen auf den Balkonen von zugedröhnten Hippies. Vielleicht auch ein kleines Feld, das direkt in den Boden gepflanzt worden war. Aber das hier sprengte alle Dimensionen.

»Wenn wir die Kerle hochnehmen, stehen wir morgen überall auf den Titelseiten«, murmelte Braun euphorisch. Der Beamte schien alle Antipathie seinem Vorgesetzten gegenüber vergessen zu haben.

Eitelkeit ist eine der größten menschlichen Schwächen, dachte Hiller. Niemand wusste das besser als er, schließlich hatte Leuen ihn damals unter anderem mit der Aussicht auf einen hohen Bekanntheitsgrad geködert.

Braun steuerte den Wagen in das Feld hinein, wobei er sich eine Schneise zunutze machte, die erst kürzlich jemand dort hineingepflügt hatte – Nitsche etwa?

Gleich darauf sah Hiller zwei Autos: einen Polizeiwagen und einen grünen New Beetle. Ihre Türen waren aufgerissen. Sie schienen leer zu sein.

»Mist«, zischte Hiller. Nitsche und die Täter mussten hier irgendwo zu Fuß unterwegs sein. Er sah nach hinten. Drei weitere Polizeifahrzeuge, jeweils mit vier Männern besetzt, standen mit laufendem Motor in der Schneise hinter ihnen. Ein Blick ringsum enthüllte zu allen Seiten nichts als stinkendes, harziges Grün. Sie würden dieses Feld getrennt durchsuchen müssen, andernfalls wäre es unmöglich flächendeckend zu erforschen.

Hiller griff nach dem Funkgerät. »Fahrzeuge abstellen und Zweier-Gruppen bilden. Wir durchkämmen das Feld!«

Er schnallte sich ab, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Der Gestank der Drogen war überwältigend. Die Luft schien zum Schneiden dick zu sein. »Braun, Sie kommen mit mir!«, rief er seinem Fahrer zu und überprüfte derweil, ob seine Dienstwaffe auch locker im Holster saß. Dann ging er die anderen Polizeifahrzeuge ab, wobei er den Beamten jeweils ein bestimmtes Areal zuwies, das sie durchsuchen sollten. »Und halten Sie ständigen Funkkontakt! Wenn sich dort draußen etwas regt, möchte ich es als Erster wissen!«

Als alle Männer instruiert waren, setzte er eine Nachricht an die Zentrale ab und bat bei dieser Gelegenheit um Verstärkung und ein Team von der Spurensicherung. Er hatte so eine Ahnung, dass es hier noch ordentlich zu tun geben würde.

Hiller nahm sich Braun und ging, gefolgt von dem ehrgeizigen jungen Beamten, festen Schrittes mitten in das Dickicht aus Marihuana hinein. Er zog seine Waffe und hielt sie mit beiden Händen auf den Boden vor sich gerichtet. Besser, er war vorbereitet. Nur für alle Fälle.

Beim Gehen versuchte er möglichst viele der Stängel niederzutrampeln, um so seine Spur zu markieren. Die Pflanzendecke schloss sich mindestens einen halben Meter über seinem Kopf und machte es ihm so unmöglich, sich auf andere Art zu orientieren. Er bemühte sich, so leise wie möglich zu sein und lauschte gebannt in die feucht-warme, mit den Ausdünstungen der verbotenen Pflanzen gesättigte Luft hinein. Irgendwo dort draußen waren sie, der oder die Einbrecher und Frau Nitsche, die aus unerfindlichen Gründen den Verstand verloren zu haben schien. Er musste auf alles vorbereitet sein.

»Mann, ist das ‘ne Menge Gras ... Marihuana, meine ich!«

Hiller warf Braun einen strengen Blick zu. Dann bedeutete er ihm mit herrischer Geste, den Mund zu halten. Der Mann versteifte sich und lief rot an.

Gereizt setzte Hiller seinen Weg fort. Er hatte keine große Lust, bei dieser Sache verletzt oder gar über den Haufen geschossen zu werden, nur weil ein unerfahrener Beamter ihre Position preisgegeben hatte.

Grün, grün, grün. Und dann dieser Gestank! Es war, als würde er durch jede Pore in seinen Körper sickern und ihn am Denken hindern. Hiller hätte schwören können, dass die Drogen ihn durch ihre pure Anwesenheit schon stoned machten. Aber das war selbstverständlich unmöglich. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.

Da waren allerhand Geräusche: Irgendwo zirpte eine Grille, Insekten summten, ein Waldvogel markierte durch lautes Geträller sein Revier … und das, was war das gewesen?

»Haben Sie das auch gehört?«, fragte er leise, doch Braun zuckte nur mit den Schultern.

»Klang wie … Flügel«, murmelte Hiller. »Wie ein verdammt großer Vogel.«

Merkwürdig. Aber egal, erst einmal weiter.

Er spürte, wie er wieder zu schwitzen begann. Die Waffe in seinen Händen fühlte sich glitschig an.

Pflanzen, die er niedertrampelte. Grün, alles war grün. Gestank. Eine Hummel, neben seinem Ohr. Klebriges Harz am Arm. Eine Ameise, die innen sein Hosenbein emporkrabbelte. Er kratzte sich geistesabwesend.

Wo war nur Nitsche? Immer wieder schien es, als wären bestimmte Stellen erst vor kurzer Zeit niedergetrampelt worden, allerdings stieß Hiller zu selten auf solche Flecken, um aus ihnen eine vernünftige Spur abzuleiten.

Wieder der Vogel – träller, träller, träller. Noch eine Grille. Ein Wedel der Pflanzen, in seinem Auge. Weg damit. Und dann wieder …

»Da, hören Sie es jetzt?«

Doch Braun sah ihn nur fragend an. »Was meinen Sie denn?«

Hiller widerstand dem Impuls, sich die Hand vor die Stirn zu schlagen. Der Mann würde es wohl nie allzu weit bringen.

»Tut mir leid, Herr Kommissar, ich höre wirklich nichts. Wovon sprechen Sie …«

Auf einmal ging ein Ruck durch Braun. Er taumelte nach vorne, als hätte man ihm einen Schlag in den Rücken versetzt. Hinter ihm wankten die Stängel der Pflanzen, als wäre ein starker Wind durch sie hindurchgerauscht, allerdings spürte Hiller keine Luftbewegung. Braun schrie auf, überrascht und schmerzerfüllt: »Autsch! Was ist das, verd…«

Der gesamte Körper des Mannes zuckte. Er versteifte sich, die Arme standen in seltsamen Winkeln ab. Die Augen waren verdreht, der Mund weit offen. Ein seltsamer Laut, gurgelnd und unartikuliert, entstieg der Luftröhre des Beamten.

Hillers Nackenhaare standen zu Berge. Was war mit dem Mann geschehen? Seine in vielen bedrohlichen Situationen geschärften Sinne meldeten höchste Gefahr. Er wollte Braun berühren, den Arm nach ihm ausstrecken und an ihm rütteln, doch gleichzeitig schrillte sein Polizisten-Instinkt und hielt ihn davon ab.

Jetzt löste sich Braun aus seiner Starre. Seine rechte Hand wanderte zuckend in Richtung Schulterhalfter. Mit spastischen Bewegungen zog er seine Waffe.

»Braun, was ist los mit Ihnen?«, piepste Hiller.

Doch der Mann schien ihn nicht zu hören. Er stand vor ihm, in seltsam gebückter Haltung, den Kopf ungesund verrenkt, und fixierte ihn mit halb geschlossenen Augen. Seine Zunge hing schlaff aus dem Mundwinkel. Und dann richtete er mit langsamen, ungelenken Bewegungen die Waffe auf Hiller.

»Tun Sie das nicht!«, rief Hiller im Kommandoton aus, doch Braun beachtete ihn nicht. Der Lauf der Pistole hob sich unerbittlich.

»Ich befehle Ihnen, die Waffe herunterzunehmen! Ansonsten muss ich auf Sie schießen!«

Braun öffnete den Mund ein Stückchen weiter und sagte: »Mbwaaa!«

Als Hiller sah, wie Brauns Unterarmmuskeln sich anspannten, handelte er. Er schoss dem Beamten aus nächster Nähe in die rechte Schulter. Das Projektil durchschlug den Körper des Polizisten, trat am Rücken wieder aus und benetzte das undurchdringliche Grün dahinter mit einem roten Sprühregen. Sofort fiel Brauns Waffenarm nutzlos herab.

Aber der Mann war nicht etwa ausgeschaltet. Seelenruhig nahm er die Pistole in die linke Hand und machte Anstalten, erneut in Hillers Richtung zu zielen.

Großer Gott, sollte er noch einmal auf ihn schießen? Braun war eindeutig nicht mehr Herr seiner selbst; er war ein Fall für das Irrenhaus, nicht für die Leichenhalle. Ihn zu töten wäre unangemessen. Hiller entschied sich zu einer raschen Flucht. Er wirbelte auf dem Absatz herum. Zwei, drei schnelle Schritte, dann hatte ihn das Grün verschluckt.

Er zuckte zusammen, als sein Funkgerät knackte: »War das ein Schuss? Wir haben einen Schuss …«

Hiller schaltete das Gerät ab. Womöglich hing sein Leben nun davon ab, dass er sich still verhielt. Er tastete sich behutsam voran, sorgsam darauf bedacht, möglichst wenig Lärm zu machen. Er musste irgendwie zurück zum Fahrzeug, die Verstärkung abwarten. Und dann das gesamte Feld roden und das freilegen, was es verbarg.

Waren das Schritte hinter ihm? Oder kam das Geräusch von vorne? Hillers Atem ging pfeifend – er musste sich beruhigen! Sein Arm mit der Dienstwaffe ruderte umher, zielte überall und nirgendwo hin. Er hatte sich im Lauf seiner Karriere bisher dreimal in Lebensgefahr befunden, und jedesmal hatte ihn dabei ein Gefühl immenser Bedrohung beschlichen. Niemals zuvor war das Gefühl jedoch so stark gewesen wie in diesem Moment.

Die Schweißflecken unter seinen Armen kehrten zurück, während er viel zu schnell durch das Pflanzendickicht hastete. Jegliche Orientierung hatte er längst verloren.

Da waren wieder die Schritte! Er wirbelte herum und feuerte blindlings eine Kugel ab. Und dann … dort, auf seiner rechten Seite! Er schrie auf und rannte wieder los, rannte, bis er ein Stück entfernt noch mehr Schüsse hörte. Mindestens zwei weitere Beamte feuerten dort ihre Waffen ab. Zumindest stand zu hoffen, dass es Beamte waren. War Braun unter ihnen? Was ging hier vor, um Himmels willen?

Er wandte sich von den Schüssen ab. Weg, nur weg. Erst einmal aus dem Drogenfeld heraus, in den Wagen und …

Und dann war ganz dicht neben seinem linken Ohr eine Stimme. Es klang, als wolle ein Kleinkind etwas von seinem Vater wissen, als Nitsche ihn fragte: »Ga-ga-riii?«