Strange Days - Band 3

 

Leseprobe 2

 

Natalie Bircher stopfte sich CD-ROM´s, USB-Sticks und zusammengefaltete Ausdrucke in die Taschen.

Der Alarm lief schon seit einiger Zeit, das Labor lag verlassen da, aber sie konnte doch nicht einfach alles zurücklassen! Die Ergebnisse ihrer Arbeit, die sensationellen Früchte ihrer Forschung ... wer wusste, ob die Station noch stehen würde, wenn sie zurückkehrte. Hier war so vieles entdeckt worden, neues Wissen wartete darauf, mit der Menschheit geteilt zu werden. Sie wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, dass all das womöglich verloren ging.

Immerhin war die nervtötende Meldung verstummt, die sie beständig dazu aufgefor­dert hatte, sich zum Evakuierungspunkt zu begeben. Die Schneemobile würden warten. Sie hatte noch ein paar Minuten, da war sie sich sicher.

Natalie hatte immer schon ihren eigenen Kopf gehabt und war deswegen immer wieder angeeckt. Nun sagte ihr dieser Kopf, dass wenigstens ein Mensch den Überblick behalten und einen Teil der Daten retten musste.

Sie beendete ihre hastige Ernte, zog den Parka über ihren Laborkittel mit den gefüllten Taschen und schloss den Reißverschluss. Ihre Brille war nach vorne gerutscht; mit einer schnellen Bewegung des Zeigefingers schob sie sie wieder an ihren Platz und streifte sich die Atemmaske über. Selbstverständlich hatte sie an die Schutzkleidung gedacht. Es wäre töricht, in einer unklaren Notsituation nicht auf alles vorbereitet zu sein.

Sie verließ die Labors und begab sich durch die Schleuse in einen der Verbindungs­gänge. Nun, da sie nicht mehr beschäftigt war, kehrten die nagenden Gedanken zurück. Weshalb hatte Leuen sie so grob weggeschickt? War er nicht zufrieden mit dem, was sie ihm berichtet hatte? Nein, das konnte es nicht sein. Natalie hatte gesehen, wie ihn die Übersetzung des Knotenpunkt-Abschnittes geradezu in Begeisterung versetzte. Lag es vielleicht an ihrer Art des Vortrags? War sie wieder einmal zu forsch gewesen, hatte die höhere Stellung des Gegenübers nicht gewürdigt? Sie hatte so große Hoffnungen in diese Unterredung gesetzt; ein Karrieresprung hatte sich angebahnt. Stattdessen ... fortgeschickt, weggewedelt wie eine lästige Fliege. Und Sörensen, ihr Mentor, der Mann, den sie stets bewundert hatte ... verwirrt. Und das war äußerst freundlich aus­gedrückt. Insgeheim vermutete Natalie, dass der Archäologe als Folge der Isolation eine Psychose entwickelt hatte. Monatelang hatte er sich mit nichts anderem als den verstörenden Reliefs beschäftigen können und irgendwann hatte sein Verstand begonnen, die Darstellungen für real zu halten.

Aber nicht so sie selbst! Sie war durch und durch Wissenschaftlerin, sie dachte rational. Niemals würde sie Sörensens verstiegenen Theorien, nach denen Monster die Station überrennen könnten, Glauben schenken. Es gab eine schlüssige Erklärung für den gegenwärtigen Alarm, sie war nur noch nicht gefunden!

Auf dem Boden des Verbindungsganges waren dunkle Flecken. Das rote Licht ließ ihre ursprüngliche Farbe nur schwer erkennen. Sie wirkten beinahe wie Blut ...

Ach was! Natalie schüttelte energisch den Kopf. Dort vorne war bereits die nächste Schleusentür. Karte durchschieben, am Griff ziehen, eintreten, hinter sich schließen, zweite Tür ...

Der Gang war kalt. Unglaublich, beinahe unermesslich kalt. Es musste ein Leck in der Außenhaut geben. Trotz der Schutzkleidung fror Natalie augenblicklich, jeder Atemzug wurde ungeachtet der Maske zur Qual. Minus 70 Grad Celsius, mindestens, schätzte sie. Ein Windstoß pfiff an ihr vorbei, fegte ihr Eispartikel ins Gesicht. Sie klirrten auf der Schutzbrille, bevor sie an ihr festfroren.

Gestalten lagen am Boden, reglos und stumm. Erfroren. Ohne Schutzkleidung von der Kälte erwischt, so musste es sein. Schrecklich und unglaublich tragisch, aber dennoch ein Unfall. Sie trug Schutzkleidung, ihr konnte nichts geschehen.

Aber weshalb waren dort diese dunklen Pfützen? Und sahen die Gestalten nicht irgendwie unvollständig aus, so als fehlten ihnen bestimmte Teile?

Natalie zwang sich, nicht zu genau hinzusehen. Ihre Fantasie spielte ihr Streiche, was angesichts der Situation kein Wunder war. Aber sie war Wissenschaftlerin. Sie dachte rational.

Das Licht ging aus.

Was eben rot und grotesk vor ihr gelegen hatte, wurde von undurchdringlicher Finsternis verschluckt.

Ruhig bleiben, sagte sie sich. Die Generatoren haben etwas abbekommen, das wird sicher bald behoben. Dir kann nichts geschehen.

Ihr Herzschlag erhöhte sich dennoch, weigerte sich, auf sie zu hören. Nun war sie die Vorgesetzte und ihr Herz die aufsässige Angestellte. Sie erntete, was sie gesät hatte.

Ruhig bleiben, rational denken.

»Es gibt keine Monster in der Dunkelheit«, hatte ihr Vater immer gesagt und sie dabei am Kopf gekrault, wenn sie mitten in der Nacht schreiend aus einem Albtraum hochgeschreckt war. »Nur Träume und Schatten.«

Das war es. Träume und Schatten. Nichts, wovor sie sich fürchten musste.

Sie kannte die Station gut, konnte sich auch blind bis zum Evakuierungspunkt vorarbeiten. Gleich dort vorne, auf der linken Seite – dort musste die nächste Schleuse sein.

Sie tastete, griff in die Dunkelheit, machte einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen. Ihr Fuß verfing sich in etwas Steifgefrorenem. Sie verlor das Gleichgewicht, schlug hart hin und prellte sich den Ellbogen. Weshalb hatte sie nicht daran gedacht, eine Taschenlampe einzustecken?!

Natalie rappelte sich auf. Tastete nach der Wand des Ganges. Stolperte weiter. Ihr Atem ging pfeifend, die schneidende Kälte schien ihre Luftröhre zu verletzen. Ihr Herz hämmerte so wild, als habe sie mehrere Kannen Kaffee hinuntergestürzt. Der Sturm heulte über ihr. Drohend, feindselig, gewaltbereit.

Nur Träume und Schatten. Rational denken.

War da ein Geräusch? Dort, hinter ihr? Oder spielten ihr die überreizten Sinne einen Streich? Natalies Herzschlag dröhnte so laut in ihren Ohren, dass es schwer war, etwas anderes wahrzunehmen.

Zwei, drei weitere Schritte. Einen Fuß vor den anderen, tastend, suchend … da, unter ihrer Hand! Die Schleusentür! Erleichtert griff sie nach ihrer Karte, um sie in der Finsternis an den Schlitz zu führen.

Plötzlich war das Geräusch wieder da. Und es stank, stank ganz fürchterlich! Der Geruch war so stechend, dass sie vor Ekel die Karte fallen ließ.

Oh nein, schoss es ihr durch den Kopf, schnell bücken und den Boden absuchen!

Der Geruch wurde immer schlimmer. Die Geräusche näherten sich, ein Glitschen und Blubbern, als würde man Sirup auf den Boden schütten.

Mit den Handschuhen konnte man nicht tasten. Sie riss sich einen davon herunter.

Träume und Schatten, Träume und Schatten ...

Natalies Hand brannte vor Kälte. Sie stellte sich vor, wie sich Erfrierungen auf ihr ausbreiteten. Fiese Stellen, blau zuerst, dann schwarz absterbend, verfaulend …

Sie hatte nur wenige Sekunden, dann würde sie das Gefühl in den Fingern verlieren.

Schnell tasten, tasten!

Der Gestank war jetzt so überwältigend, dass ihr trotz der Atemmaske schwindlig wurde. Das glitschende Geräusch befand sich direkt hinter ihrem Rücken.

»Ihr seid nur Träume und Schatten!«, schrie sie und fand endlich die harten, eckigen Umrisse der Schlüsselkarte.

Sie sprang auf die Beine, fingerte nach dem Schlitz des Kartenlesers. Bevor sie ihn ausfindig machen konnte, schlang sich das Glitschen mit feurigen Zähnen um sie. Es sog, riss, lutschte an ihr. Jeglicher rationale Gedanke wurde von höllischen Qualen hinweggefegt.

In ihren letzten Sekunden wurde Natalie Bircher klar, dass es doch Monster in der Dunkelheit gab.