Uppercut

 

Leseprobe 1 - der Anfang des Romans

 

Robert Strauss verschluckte sich an seinem Bier, als er das Foto sah. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, verstopfte seine Luftröhre und verursachte einen Hustenanfall. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Glas auf dem Tresen abzustellen, ehe er alles verschüttete.

 Doch das Bier und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten waren im Moment seine geringste Sorge; auch ohne das Gebräu in den Atemwegen wäre es ihm schwergefallen, Luft zu bekommen. Entsetzen schlang sich um seine Bronchien und schien das Leben aus ihm herauszupressen.

 Die Fotografie zeigte nichts, was man als moderner Mensch westlicher Prägung nicht bereits zigmal gesehen hätte. Kinder stolperten beim Surfen im Internet andauernd über entsprechende Darstellungen, Jugendliche pflegten ähnliche Aufnahmen auf ihren Mobiltelefonen zu speichern und während der Schulpausen untereinander auszutauschen. In einer Zeit des moralischen Verfalls – in der Robert sich laut eigener Meinung befand – hätte man allenfalls Nonnen oder weltfremde Spießer mit dem Bild schockieren können.

Trotzdem war Robert paralysiert. Furcht, die alles überstieg, was er bislang erlebt hatte, fraß sich durch ihn, sickerte aus sämtlichen Poren seines Körpers, beschleunigte das Schlagen seines Herzens auf ein rasendes Tempo und führte dazu, dass sich seine Muskulatur verkrampfte.

»Tam«, presste er hervor, »mein Gott, Tamara.«

Sie lag dort, auf dieser … dieser Pritsche, mit Kabelbindern an rostige Bettpfosten gefesselt. Von ihrer Kleidung waren nur Fetzen geblieben. Der Winkel der Fotografie war so gewählt, dass er jedes Detail ihrer Nacktheit enthüllte. Striemen überzogen ihre Haut, Rinnsale aus Blut quollen unter den Fesseln hervor. Aber das Schlimmste waren ihre Augen. Erinnerungen durchzuckten Robert, als er eine Verbindung zwischen seinem und Tamaras Blick herstellte, als ihre erweiterten Pupillen sich immer weiter zu nähern schienen, bis die Todesangst darin auch ihn erzittern ließ. Um solch einen Ausdruck hervorzurufen, musste man Menschen auf eine ganz bestimmte Weise behandeln. Auf eine Weise, die jemand wie Tamara niemals kennenlernen sollte.

Über die grauenhafte Szene stand mit weißem Gelstift eine Botschaft geschrieben: Wenn sie weiterleben soll, gehen Sie ans Telefon!

Allmählich taute das Eis um Roberts Gedanken, entließ hektische Fragen in seinen Schädel, die umherschwirrten wie verirrte Projektile. Welches Telefon konnte gemeint sein – doch nicht etwa das in der Bar? Was um Himmels willen wollte man von ihm? Und wer könnte es getan haben, wer war zu einer solchen Tat fähig?

Was nie hätte passieren dürfen, war geschehen: Die Frau, die er liebte, befand sich in den Händen skrupelloser Entführer. Ihr wurden furchtbare Dinge angetan. Sie hatte schreckliche Angst.

Robert spürte etwas an seiner Wange und wischte es weg. Wo war nur seine Abgebrühtheit geblieben? Er sollte sich zusammenreißen, kühl und sachlich über alles nachdenken, einen Plan für Tams Rettung schmie...

»…bert? Hey, Robert!«

Es war, als sei er aus dem Hyperraum zurück in die dreidimensionale Welt gesprungen. Blecherne Musik plärrte aus der Jukebox, Zigarettenqualm stach ihm in die Nase, schummrige Beleuchtung entriss die Kneipe der Finsternis. Der Gestank von Frittierfett, Billardkugeln, die lautstark gegeneinanderprallten, gemurmelte Gespräche … das alles strömte auf Robert ein und drohte, ihn zu erdrücken. Auf seiner Schulter lag eine Hand. Er sah nach oben, in das Gesicht ihres Besitzers.

Kais blaue Augen musterten ihn besorgt. »Du siehst aus, als wäre dir Satan höchstpersönlich begegnet. Ist alles okay?«

Robert wollte es ihm sagen, musste es sagen. Aber das würden die Entführer sicher nicht gutheißen. Was, wenn sie es herausfanden? Wenn sie Tamara dafür bestraften? Vielleicht beobachteten sie ihn gerade jetzt …

»Ich …«

Er schluckte schwer. Kai fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten, blonden Locken, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. »Woran krallst du dich da fest? Zeig mal her.« Er griff nach der Fotografie.

»Nein!«, brüllte Robert beinahe. Er entriss seinem Freund das Bild, drehte es um, schob es mit bebenden Fingern zurück in den Umschlag und steckte alles in seine Jackentasche.

»Mein Gott, das muss ja was Furchtbares sein. Hätte ich gewusst, wie du darauf reagierst, dann hätte ich dir das Ding nie gegeben.«

Robert fasste über den Tresen, umklammerte Kais Handgelenk und fragte: »Wer war der Kerl?«

»Welchen Kerl meinst du? Den, der mir den Umschlag gegeben hat?«

»Wen denn sonst!«

»Okay, okay. Beruhige dich, Junge! Soll ich dir nicht erst mal nen Scotch …«

»Verdammt, Kai!« Robert fasste mit der anderen Hand nach dem Kragen des Freundes. Speichel klebte an seinen Mundwinkeln, als er zischte: »Wer der Kerl war, will ich wissen!«

Nun sah Kai endgültig besorgt aus. »Heilige Scheiße, was ist denn los?«

Es fiel Robert nicht leicht, seine verkrampften Hände von Kai zu lösen. Er wollte etwas mit ihnen zerstören. »Tut mir leid. Aber das … es ist wichtig.«

»Das sehe ich«, entgegnete Kai. Er war bleich geworden. »Scheiße, Mann, ich hab nicht so genau hingesehen. Der Typ …« Das Klingeln eines Telefons unterbrach ihn.

Ein eisiger Schauder kroch über Roberts Rücken.

Wenn sie weiterleben soll, gehen Sie ans Telefon!

»Kleinen Moment, ja?« Kai wandte sich ab und griff unter die Theke. Robert beobachtete ihn wie gelähmt.

»Dussmanns, hallo? … Soll das so was wie ein Scherzanruf sein? Ihre Stimme … okay. Gut … Ja, kann ich tun, kein Problem. Wen …?«

Kai fixierte Robert mit überraschtem Blick. Robert fühlte sämtliche Farbe aus seinem Gesicht weichen.

»Ja, er ist tatsächlich hier. Darf ich fragen, wer … Ja, selbstverständlich. Ich gebe Sie weiter.« Er hielt Robert das Telefon hin und sprach die überflüssigen Worte: »Für dich.«

Robert fixierte das Gerät, starrte darauf, als könne er es so verschwinden lassen und die ganze Sache zum Albtraum degradieren. Doch es löste sich nicht auf.

Er versuchte, »Ja?« zu sagen, doch nur ein Röcheln drang durch seine Lippen.

»Herr Strauss?« Die Stimme war verzerrt, klang hohl und elektronisch. Robert konnte nicht einmal bestimmen, ob sie männlich oder weiblich war.

Er versuchte es erneut, diesmal wurde ein Krächzen daraus: »Ja?«

»Für den Moment gibt es nur eine Regel: keine Polizei. Sie warten, wir melden uns. Wenn Sie doch zur Polizei gehen, ist Ihre Frau tot. Allerdings werden wir vorher noch unseren Spaß mit ihr haben. Das heißt, mehr Spaß als wir ohnehin schon haben. Verstanden?«

Unbändige Wut stieg in Robert auf. Er wollte in das Telefon kriechen, sich durch die Leitungen winden, um am anderen Ende herauszuspringen und den Schädel des Anrufers zu Brei zu schlagen. »Du verdammtes Schwein!«, flüsterte er heiser. »Wenn ich dich jemals …«

»Na, na, Herr Strauss. Sie sollten sich besser an Ihre gute Kinderstube erinnern. Was denken Sie wohl, an wem ich meinen Frust auslassen werde, wenn ich sauer auf Sie bin?«

Ihre gute Kinderstube … so etwas sagte Tamara auch immer zu ihm, wenn er sich danebenbenahm. Ein Schluchzen stieg in Roberts Kehle auf. Er schluckte es hinunter und murmelte: »Kommt nicht wieder vor.«

»Gut. Und nun noch eines – damit Sie ohne jeden Zweifel von unserer Ernsthaftigkeit überzeugt sind, könnte man sagen. Sehen Sie den fetten Kerl links von Ihnen?«

Robert sah hinüber. Ein glatzköpfiger Mann in den Fünfzigern schaufelte Erdnüsse in sich hinein und spülte mit Bier nach.

»Ja.«

»Sehr schön. Geben Sie gut Acht.«

Es wurde aufgelegt.

Robert starrte auf das Telefon, zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Plötzlich war Kai wieder da. »Was war das denn für ein Vogel? Und was wollte er? Hatte es etwas mit dem Umschlag … hey, was ist denn mit dem los?«

Der Mann neben Robert hatte aufgehört, sich mit Erdnüssen vollzustopfen. Er griff sich an die Brust, verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und kippte von seinem Hocker. Mit einem dumpfen Klatschen schlug er auf dem Boden auf. Sein Körper zuckte unkontrolliert.

Robert sprang auf und stürzte zu ihm. Er wälzte den Mann auf den Rücken und sog scharf die Luft ein, als er den Schaum sah, der aus seinen Mundwinkeln rann.

»Einen Krankenwagen!«, schrie er. »Schnell!«

Noch während Kai erneut nach dem Telefon griff, erstarben die Bewegungen des Mannes.